04.12.2010

 

Studie "Deutsche Zustände"

 

Islamfeindlichkeit und Sozialdarwinismus in Deutschland nähmen zu, warnen Forscher. Sie sprechen von "verrohendem Bürgertum".

 

 

Eine erschreckende Studie bestätigt, wie sehr sich Deutschland und die Deutschen verändern. Beispielhaft zeigte sich dies bereits an der Debatte um Thilo Sarrazin und ebenso an dem aus dem bürgerlichen Lager organisierten Protest gegen „Stuttgart 21“ oder die Atompolitik der Bundesregierung. Nun liegt diese Entwicklung schwarz auf weiß dokumentiert vor.

 

In ihrer repräsentativen Umfrage „Deutsche Zustände“ stellten die Soziologen um den Bielefelder Forscher Wilhelm Heitmeyer eine „Vereisung des sozialen Klimas“ fest. Sie sprechen von einem „verrohenden Bürgertum“. Vor allem bei den knapp 20 Prozent Wohlhabenden oder Reichen diagnostizieren sie eine erschreckend zunehmende Islamfeindlichkeit. Die „taz“ titelt dazu: „In der Mitte der Gesellschaft wächst der Hass.“

 

Woher dieser Hass kommt, das geht aus der Vorabveröffentlichung der Studie nicht hervor. Aber einiges lässt sich erahnen. Schließlich gibt es schon lange diese diffuse Furcht in der Gesellschaft. In ihr mischt sich die Sorge um den eigenen wirtschaftlichen und sozialen Status mit der Furcht vor einem Zusammenbruch des gesamten westlichen Finanz- und Wirtschaftssystem. Mit dem Vertrauen in den Kapitalismus schwindet die Hoffnung auf andauernden Wohlstand und Sicherheit im Alter.

 

„Zivilisierte, tolerante, differenzierte Einstellungen in höheren Einkommensgruppen scheinen sich in unzivilisierte, intolerante – verrohte – Einstellungen zu wandeln“, schreiben die Autoren der Studie.

 

Gerade die wohlhabenden und reichen Bürger suchten ihr Heil in einer aggressiven Abgrenzung von Menschen mit geringeren Einkommen. Unter die Wohlhabenden zählen die Bielefelder Forscher Bürger mit einem Einkommen von 2598 Euro pro Person im Monat.

 

„In der Krise haben viele Besserverdiener erstmals gemerkt, was finanzielle Einbußen bedeuten“, sagt Studienleiter Heitmeyer. Dadurch seien mühsam erlernte soziale Normen und Werte in Vergessenheit geraten, der Sozialdarwinismus habe zugenommen. Das Gefühl der Bedrohung durch die Krise habe auch zu einer schleichenden „Radikalisierung der gesellschaftlichen Mitte“ geführt.

 

Ihr gehe es um die Sicherung oder Steigerung eigener sozialer Privilegien „durch die Abwertung und Desintegration volkswirtschaftlich etikettierter Nutzloser sowie um die kulturelle Abwehr durch Abwertung“. So würden gerade Muslime als „ökonomisch nutzlos“ und „fremd“ stigmatisiert.
Bislang hieß es immer, Bildung könne vor solchen Verurteilungen schützen. Nun behaupten die Autoren der Studie, „Bildung wirkt in diesem Fall der Abwertung nicht entgegen“. Islamfeindlichkeit sei auch bei jenen konsensfähig, bei denen es bisher nicht zu erwarten war. Gut jeder vierte Befragte stimmte der Aussage zu, „Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden“. Dies seien knapp fünf Prozentpunkte mehr als im Vorjahr. „Rechtspopulistische Einstellungen verbinden sich mit islamfeindlichen Einstellungen und sind aggressiv aufgeladen“, sagt die Soziologin Beate Küpper.

 

Gleichzeitig sinke in der genannten Einkommensschicht signifikant die Bereitschaft, Schwachen zu helfen. Heitmeyer spricht von einem „Klassenkampf von oben“. Dieser sei gekennzeichnet vom Rückzug der höheren Einkommensgruppen vom sozialen Zusammenhalt der Solidargemeinschaft. Auch diese Entwicklung trifft in erster Linie wieder jene, die als „Fremde“, sprich „Ausländer“ und „Muslime“ wahrgenommen würden. Eine „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ greife um sich, sagt Heitmeyer.

 

Betroffen davon sind auch die Juden. Seit 2008 nehmen der Studie zufolge Antisemitismus und die Kritik an Israel in Deutschland wieder zu. In diesem Jahr stimmen 38 Prozent der Befragten dem Satz zu: „Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen die Juden hat.“ Den Satz „Israel führt einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser“ unterschrieben sogar 57 Prozent. Insgesamt sei Antisemitismus in Deutschland stärker ausgeprägt als etwa in den Niederlanden, Dänemark, Frankreich oder Portugal.
Interessant sind die Ergebnisse der Studie auch deshalb, weil sie auf Umfragen beruht, die bereits vor der Debatte um Thilo Sarrazin gemacht wurden. Die Antworten sind also nicht geprägt von der öffentlichen Auseinandersetzung, sondern geben einen Einblick in das gesellschaftliche Klima, in dem Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ wie eine Bombe explodierte.

 

In der Frage, ob und in wieweit diese Entwicklung politische Folgen haben wird, geben sich die Forscher zurückhaltend. Noch zweifelt Heitmeyer an der baldigen Gründung einer Partei rechts von der CDU, allerdings nur, weil es an charismatischen Gestalten fehle. Das Potenzial sei indes "ebenso vorhanden wie die schon markierten Opfer von Abwertung und Diskriminierung aus ökonomischen wie kulturell entwickleten Gründen". "Aber eine verdeckte Bewegung, die sich nicht auf der Straße zeigt, aber in den Mentalitäten aufschaukelt, existiert längst", sagt er.

 

Seit dem Jahr 2002 untersucht die Langzeitstudie „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in Deutschland“ Ausmaße, Entwicklungen und Ursachen von Vorurteilen gegenüber unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen. Für den nun vorliegenden 9. Report, der sich mit den Folgen der Wirtschaftskrise befasste, wurden im Mai und Juni dieses Jahres 2000 Menschen befragt.

 

http://www.welt.de/politik/deutschland/article11389451/Unter-den-Wohlhabenden-waechst-der-Hass.html?wtmc=RSS.Politik.Deutschland